Liebe in Zeiten zerfallender Gewissheiten
Ein Wenderoman
Erhältlich ab Mitte März 2017. ISBN 9-783743-109162. Mein Dank für das Cover geht an Barbara Pott.
Am Tag nach dem Mauerfall verliebt sich der Westdeutsche Micha in seine Brieffreundin Marie aus Eisenach. Es könnte eine wunderbare Zukunft für die beiden beginnen, wenn nicht ihre Umgebung eine ausgeprägte Abneigung gegen Leute aus dem anderen Teil Deutschlands entwickelt hätte. Am Tag der Währungsunion fährt Micha nach Berlin, um Marie gegen alle Widerstände zurückzugewinnen.
Im Kontext einer Liebesgeschichte zwischen Ost und West, die mit einer Brieffreundschaft beginnt und am Tag der Wiedervereinigung endet, entwirft der Autor ein Panorama der deutschen Provinz zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, der Borniertheit der westdeutschen Linken und der Frustration der ostdeutschen Wendeverlierer.
Liebe in Zeiten zerfallender Gewissheiten
Kapitel 1
Wenn er anderswo nach seiner Herkunft gefragt wurde, sagte Micha, er komme vom Ende der westlichen Welt. Vom Dachfenster in seinem Zimmer konnte er den Eisernen Vorhang sehen. Wie ein Lindwurm wälzte er sich durch die hessische Mittelgebirgslandschaft und fraß eine 200 Meter breite Schneise durch die Wälder. Dahinter nur noch Terra Incognita.
Sein Großvater hatte erzählt, die alte Dorfstraße habe einmal weiter geführt, über die hinter dem Dorf gelegenen Felder in den Wald hinein und dann in das nächste Dorf, das sich schon in Thüringen befand. Wenn er von früher erzählte sah sein Großvater die Straße ins Thüringische immer vor sich. Die Bauern, die von drüben mit ihren Ochsenkarren kamen. Oder die Mädchen, die er mit dem Pferdegespann nach dem Gottesdienst für einen Sonntagsausflug abholte. Das Klappern der Räder auf den Pflastersteinen. Für ihn war das alles noch präsent.
Für Micha lag Thüringen weiter weg als London oder Paris. Die gepflasterte Dorfstraße, von der seine Großvater erzählte, war schon asphaltiert gewesen, solange er denken konnte. Der geteerte Teil endete direkt hinter den letzten Häusern von Hängerode und wurde danach zu einem Feldweg, der auf den Eisernen Vorhang zuführte und direkt davor aufhörte. Am Ende des Feldweges, nur wenige Meter von der Grenze entfernt, hatte ein Tischler aus dem Dorf ein Holzschild aufgestellt, auf welchem in Holzbuchstaben geschnitzt zu lesen war: ‚Letzte Coca-Cola für 15.000 km‘.
Das Ende der Straße, das Holzschild, die Grenze.
Für die Kinder und Jugendlichen des Dorfes hörte tatsächlich die Welt jenseits der Wachtürme und der bewaldeten Hügel auf zu existieren. Das Wasser der Werra war das Einzige, was herüber kam. Von den thüringischen Kaligruben belastet bahnte es sich unten im Tal seinen Weg über die Grenze. Vorbei an den Fachwerkhäusern der Dörfer und den alten Wassermühlen schlängelte sich der Fluss mit seiner giftigen Brühe durch die Wiesen und die weiten Getreidefelder.
In Hängerode aufzuwachsen war wie unter einer Glocke groß zu werden. Es fing schon damit an, dass praktisch niemand einfach so nach Hängerode kam. Wozu auch, die Straße ins Dorf hinein war ja schon seit Jahrzehnten eine Sackgasse. Hierher kam nur, wer hier wohnte oder einen der wenigen hundert Einwohner besuchen wollte. Alle anderen blieben weg.
Was auch immer in der Welt passierte, in Hängerode schien sich nichts zu verändern. Während sich außerhalb große Umwälzungen abspielten, klebte Hängerode zwischen den Hügeln seiner Mittelgebirgslandschaft. Seine Bewohner hatten sich eine Gelassenheit angeeignet, die das Fehlen jeglicher Geschwindigkeit im Leben als eigenen Wert erachtete. Anderswo mochte es Demonstrationen geben, Rockkonzerte, Aufruhr, Streiks, Sportwettkämpfe oder Raubüberfälle. In Hängerode gab es nur den ewig gleichen Wechsel der Jahreszeiten, die Freitagabende mit den Proben des Gesangsvereins und die Samstagnachmittage mit dem Fußballspiel des Dorfvereins.
Soweit sich Micha erinnern konnte, schaffte es zwischen Zweitem Weltkrieg und Mauerfall nur ein einziges weltweites Ereignis, das Leben der Leute in Hängerode zu beeinflussen. Die Leute erzählten später, die Angelegenheit habe ihren Ursprung bei Herrn Talbach gehabt. Herr Talbach war Inhaber des örtlichen Edeka-Marktes und außerdem im Kirchenvorstand aktiv. Er war ein gedrungener Mann um die Fünfzig, mit einem kleinen Bauch und einem buschigen Schnauzbart, der schon stark ins Graue überging. Er verkaufte in seinem Laden auch ein paar der gängigen Zeitschriften. Stern, die Bunte, Tempo, Bild, Das Neue Blatt und ein paar dieser Gazetten. Es musste an einem Montagmorgen gewesen sein, als er die neueste Ausgabe des SPIEGELs in die Regale sortierte. ‚AIDS – die neue Gefahr!‘
Natürlich hatte er schon von dieser rätselhaften neuen Krankheit gehört, die aus den Großstädten der USA nach Deutschland übergriff, aber bisher hatte er gedacht, dass dies nur ein Problem für in Großstädten lebende homosexuelle Junkies sei. Dass nun der SPIEGEL diese Krankheit auf die Titelseite setzte, alarmierte ihn. Er vergaß, die Regale einzuräumen, obwohl der Laden in einer Viertelstunde geöffnet werden sollte, griff sich ein Exemplar und überflog die Titelgeschichte. Er verstand in der Eile nicht allzu viel, lediglich die Begriffe ‚tödlich‘, ‚Seuche‘, ‚Epidemie‘, ‚Körperflüssigkeit‘ und ‚mangelnde Hygiene‘ blieben ihm im Gedächtnis hängen.
Als er das Thema an diesem Abend im Kirchenvorstand ansprach, waren die anderen Mitglieder des Kirchenvorstandes genauso überrascht wie uninformiert. Herr Talbach stand auf und berichtete in Telegrammstil, was er im SPIEGEL über diese Krankheit gelesen und was er davon verstanden hatte. Dann lenkte er das Thema auf das Heilige Abendmahl. Beim Abendmahl wurden die Oblaten an die Gläubigen verteilt und schließlich ein Krug mit Wein herum gereicht. Ein Krug mit Wein. Für unzählige Gläubige. Es stelle sich die Frage, was wäre, wenn einer von denen AIDS habe. Am Ende der Sitzung beschloss der Kirchenvorstand dann kurzerhand die Abschaffung des Weinkruges. Der Pfarrer sagte zu, beim Abendmahl von nun an die Oblaten in den Wein zu tauchen und anschließend den Gläubigen in die Hand zu geben.
In der Praxis ergab sich aber das Problem, dass die dünnen Oblaten sich, nachdem der Pfarrer sie ein paar Sekunden in den Wein getaucht hatte, restlos voll gesaugt hatten. Lediglich jene Stelle am Rande, an denen er sie zum Eintauchen angefasst hatte, blieb trocken. Als der Pfarrer dann versuchte, diese Oblaten an die Wartenden zu überreichen, knickten die weich gewordenen Oblaten bei Übergabe ein, bröckelten ab und fielen herunter. Ein Überreichen der Oblaten war schlicht unmöglich. Ein kurzes Benetzen hatte nicht den gewünschten Effekt; der Wein zog in den Sekundenbruchteilen nicht ein, die wenigen Tropfen perlten ab, bevor sie mit der Oblate überreicht werden konnten. Die selbständige Einnahme der aufgeweichten Oblaten durch die Gläubigen scheiterte wiederum an ihrer brüchigen Konsistenz. Der Pfarrer bat die Kirchgänger schließlich, den Mund zu öffnen damit er die Oblaten hineinlegen konnte, die sich getränkt vom Wein vor den Mündern der Gläubigen nach unten bogen. Das Ganze wirkte, als würde ein Rentner im Park die Vögel mit Brotkrümeln füttern.
Auch wenn dieses Abendmahl das erste und letzte seiner Art blieb, erzählte Micha anderswo diese Geschichte immer wieder, reflektierte sie doch alles, warum er anders sein wollte als die Leute am Ende der westlichen Welt, weltoffener, interessierter, informierter, gewandter.
Von Eisenach war die Grenze zum Westen nur einige Kilometer entfernt und auch wenn Marie eine Vorstellung vom Land dahinter hatte, bezog sich dies nicht auf das angrenzende Nordhessen. Westdeutschland waren für sie die Hochhäuser von Frankfurt, der Hamburger Hafen, das Ruhrgebiet und die Alpen. Direkt hinter dem Todesstreifen kamen für sie der Stacheldraht und die Wachtposten. Danach nichts mehr.
Eisenach war das andere Ende der Welt und wer wie Marie in Eisenach aufwuchs, der wusste, dass es sich manchmal anfühlte, als könne man hier auch schnell über den Rand fallen. Außer einigen kulturell interessierten Westtouristen, die sich durch die Gassen der grauen und verfallenden Altstadt zur Wartburg aufmachten, kam praktisch niemand nach Eisenach, der nicht zum Wartburgwerk wollte.
Die westlichen Ortsteile von Eisenach lagen direkt in der Sperrzone. Ein Streifen von fünf Kilometern, in den selbst die anderen DRR-Bürger nur mit einer Sondererlaubnis einreisen durften. In der Schule hatte Marie Freunde aus dem Stadtteil Stedtfeld, die über Jahre immer nur bei ihr zu Hause zu Gast gewesen waren, ohne dass sie jemals eine Gegeneinladung bekommen hätte. Stedtfeld lag nur drei Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, aber es war unerreichbar. Ihre Mutter Marlene meinte, es sei zu aufwändig, lediglich für einen Besuch unter Schulfreunden einen Passierschein zu beantragen.
Die großen Schlote des Wartburgwerkes rauchten Tag für Tag. Die Häuser in Eisenach hatten nach und nach die Farbe und den Geruch des Rauches angenommen. Die Leute hatten sich eingerichtet und jene, die von Fernsucht getrieben wurden, behielten es still für sich, um die Träume nicht den Falschen zu offenbaren.
Ihr Vater Eckart war vor einem Jahr im Westen gewesen. Seine Tante war verstorben. Westverwandtschaft. In Mannheim, irgendwo in Süddeutschland, wie sich Marie erinnerte. Keine Ahnung, wo genau das lag. Ihr Vater war selbst ganz überrascht gewesen, dass sein mit der Beerdigung begründeter Antrag auf Westreise genehmigt wurde. Ihre Mutter Marlene hatte Eckart merkwürdig wortkarg verabschiedet, mit verkniffenem Gesicht. Marie hatte nicht daran gezweifelt, dass er wiederkommen würde. Und tatsächlich war er vier Tage später wieder da. Mit einer großen Schachtel Belgischer Pralinen für ihre Mutter und einem neuen Sony-Walkman für sie. Wortlos, wie es seine Art war, aber verkniffen schmunzelnd hatte er die beiden gedrückt, die noch verpackten Geschenke auf den Tisch gelegt und hatte sie dann erleichtert seufzend alleine gelassen.
Marie sollte erst Jahre später erfahren, dass Eckart noch zwei Stunden vorher auf dem Bahnhof der hessischen Provinzstadt Bebra gestanden hatte. Der Fernzug nach Berlin machte dort den letzten Halt, bevor er kurz vor Eisenach wieder die Grenze überqueren und Eckart zurück in den anderen Teil Deutschlands bringen würde.
Zehn Minuten Aufenthalt.
Genug um auszusteigen, um noch einmal die Luft durch die Nase zu ziehen und die gut verpackten Geschenke, die er nur mit Hilfe der Verwandten aus Mannheim im Karstadt hatte kaufen können, nervös von der einen Hand in die andere zu drücken. Zeit genug, die überwältigenden Eindrücke der ersten Westreise seines Lebens zu rekapitulieren, die freundliche Aufnahme durch die Westverwandten, die Trauerfeier für seine Tante, die Fülle in den Läden – oder eher die Abwesenheit des ihm bekannten täglichen Mangels in der DDR. Keine Zeit aber, um das, was ihn wirklich bewegte, noch einmal zu überdenken.
Wie lange würde es dauern, bis sie Marlene und Marie den Ausreiseantrag genehmigen würden. Drei Jahre? Oder fünf Jahre? Würde er sie bis dahin unterstützen können mit einer Arbeit im Westen? Wie würde es sein, Marie, die jetzt gerade 17 war, nicht mehr sehen zu können, bis sie 20 oder 22 war? Wie würde es sein, nach den ganzen Jahren endlich Marlene in Mannheim wieder in den Armen halten zu können? Würde ihre Ehe es aushalten?
Als der Schaffner über den Bahnsteig lief, um die Weiterfahrt frei zu geben, stieg Eckart wieder in den Zug und schloss ruckartig das Fenster. Es ging weiter nach Eisenach. Die Geschenke würden ihnen gefallen.