Ulf Hempler

Prosa | Sachbuch | Reiseberichte

Reiseberichte

Trekking in Nordeuropa und Südamerika

Meine zweite große Leidenschaft gilt dem Wildnis-Trekking: Unterwegs mit Zelt und Rucksack in unwegsamen, menschenleeren Gegenden; urwüchsige Natur und das Gefühl, allein auf sich selbst gestellt zu sein.

Um diese intensiven Erfahrungen zu speichern, schreibe ich Reiseberichte und kombiniere sie mit den Bildern der beeindruckenden Landschaften.

 

 


Schwedisch-Lappland (nördlicher Kungsleden)

Island, Westfjorde (Halbinsel Hornstrandir)

Chile, Dientes de Navarino ("die südlichste Trekkingtour der Welt")


Schwedisch-Lappland

Nördlicher Kungsleden

Der Kungsleden (Königsweg) ist einer der ältesten und wohl die bekannteste Trekkingrouten Schwedens. Die Route führt von Abisko in Nordlappland – mit Unterbrechungen – hunderte Kilometer durch ganz Nordschweden bis ins Jämtlandfjäll. Die einzelnen Streckenabschnitte sind nur über sehr abgelegene Nebenstraßen zu erreichen und führen den Trekker meist eine Woche und länger durch noch weitgehend unberührte und wilde Natur. 


Bilder vom Kungsleden, fotografiert von meiner Frau Claudia

Schräge Typen und Regenbögen 

Nördlicher Kungsleden von Kvikkjokk bis Abisko

 

13. August 2013

Um kurz vor sechs Uhr morgens steigen wir in dem kleinen nordschwedischen Ort Boden, ungefähr in Höhe des Polarkreises gelegen, aus dem Nachtzug aus. Geschätzte 150 Trekker schieben sich mit dick aufgetürmten Rucksäcken über den Bahnhof des nordschwedischen Städtchens. Eigentlich sollte der Zug ja noch weiter nach Norden gehen. Die meisten wollen nach Abisko, einige andere wie wir nach Murjek. Aber nachdem gestern auf der Strecke in Schwedisch-Lappland zwei Güterzüge kollidiert sind, ist die schwedische Bahn noch mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Alle Reisenden werden in Busse umgeladen und nach Zielort sortiert weiter transportiert.

Es ist ein sonniger freundlicher Morgen mit für Lappland angenehmen Temperaturen. Die schwedischen Bahnmitarbeiter bemühen sich, den Ansturm der Trekker in die Busse zu dirigieren. Obwohl sie die Ansagen auf Englisch wiederholen, bekommen wir nicht alles genau mit. Von einem älteren Herren mit großen Trekkingrucksack und etwas aus der Mode gekommener Outdoorbekleidung bekomme ich mit, wie er sich in zwei Sätzen mit dem Bahnmitarbeiter in Schwedisch austauscht und dabei das Wort „Kvikkjokk“ fällt. Also sagte ich zu Claudia, wir sollten uns an ihn halten, er sei Schwede und wolle auch nach Kvikkjokk. Der alte Herr bekommt dies mit und antwortet uns lächelnd, dass sei aus Köln angereicht und der Bus nach Jokkmokk mit Verlängerung nach Kvikkjokk komme in etwa zehn Minuten. Er geht den Padjadalleden. Den Kungsleden hat er schon vor über zehn Jahren gemacht. Seine Frau sei zu Hause, aber er lasse sich das Wandern nicht nehmen. Respektabel bei einem Alter von geschätzt über 60 Jahren.

Wenig später kommt der Bus. Die Häuser von Boden lassen wir schnell hinter uns. Von da an geht es in schönstem Wetter durch die praktisch menschenleere Landschaft Nordschwedens. Zwischendurch nehmen wir uns noch etwas Schlaf. In Jokkmokk, dem Zentrum der Sami in Schweden, müssen wir umsteigen. Der Bus wartet. Nach einer weitere Stunde stehe wir schließlich in Kvikkjokk, am Ende der Straße, umgeben von einem Dutzend Häuser, unsere Rucksäcke auf dem Rücken. Wie immer das herrliche Gefühl: Es geht wieder los!  

Ursprünglich wollten wir den Kungsleden ganz klassisch von Nord nach Süd laufen. Wegen der gerade in Abisko statt findenden Fjällräven Classics haben wir uns aber dazu entschieden, das Ganze in der relativen Menschenleere von Kvikkjokk zu starten, statt sich mit Hunderten von lärmenden Wanderern durch die „Wildnis“ zu wälzen. Jetzt starten wir kurz vor 12 Uhr mit nur einer Handvoll anderen Wanderer. Das Wetter ist gut, sommerlich. Wir wandern mit T-Shirts durch den Wald, der immer dichter wird und uns ins Fjäll hinein führt. Langsam steigt der Pfad leicht an, wird etwas steiniger.

Claudia bekommt heute ihr Erfolgserlebnis: Mein Rucksack mitsamt Zelt und dem Proviant drückt auf meinem Rücken. Ihrer ist um Einiges leichter und so habe ich große Mühe, an den Steigungen mitzuhalten. Fairerweise muss man festhalten, dass sie gleich anbietet, noch einige Kilogramm von mir in ihren Rucksack zu nehmen, doch ich lehne dankend ab: Wenn sie schon mitkommt (in unserem Bekanntenkreis ist sie die einzige, die so etwas mitmacht), dann soll sie auch einen Rucksack von nicht mehr als 15 Kilogramm tragen.

Der Tag verläuft unspektakulär. Wir laufen uns ein, genießen das Fjäll. Gegen 18 Uhr kommen wir an die Hütte. Der Hüttenwirt begrüßt uns. Außer uns sind nicht übermäßig viele Leute da. In der Hütte treffen wir einen Mann etwa Mitte 40, der uns auf Deutsch anspricht. Er ist nach seinem Medizinstudium in Freiburg mit seiner Frau nach Schweden ausgewandert. Der Grund: Als Medizinerin hätte sich seine Frau im deutschen Klinikalltag entscheiden müssen – entweder Kinder oder Karriere. Sein zutreffender Satz ist, dass „die deutschen Chefärzte mit ihrer Personalpolitik zwei gut ausgebildete Generationen von Medizinern nach Skandinavien getrieben haben“. Nach dem, was ich so von den Ärzten in meinem Freundeskreis erfahren habe, hat er damit völlig Recht. Jetzt wohnen die beiden seit vielen Jahren in Umea. Er ist Oberarzt für Hämatologie in der lokalen Klinik. Die beiden haben mittlerweile vier Kinder und sind beide voll berufstätig. Seine Frau ist mit den Kindern gerade auf Besuch bei den Großeltern in Deutschland. Er wollte die Zeit nutzen, um eine Runde um den Sarek über Kungsleden und Padjadalleden zu drehen. Er ist Trekkingprofi – aber auch die sind nicht frei von Fehlern. Er hat seine neuen Schuhe beim Trekken einlaufen wollen, um dann festzustellen, dass er nach drei Tagen vor lauter Blasen kaum noch laufen kann. Er zeigt uns seine lädierten Füße. Einen Tag hat er schon Zwangspause machen müssen. Den nächsten Tag will er sich bis Kvikkjokk durchschlagen und wird dann wohl einen Hubschrauber nach Ritsem nehmen müssen, wo sein Auto geparkt ist.

Wir gehen am ersten Abend früh ins Zelt. Gegen 22 Uhr schlafe ich im Hellen ein, wache kurze Zeit danach wieder im Hellen auf und vermute, dass ich nur kurz eingenickt bin. Die Uhr zeigt aber vier Uhr morgens. An die Länge der Tage im nordskandinavischen Sommer muss ich mich erst wieder gewöhnen.

          

14. August 2013

Wir kriechen gegen neun Uhr aus dem Zelt. Als Letzte. Zumindest fast. In einem anderen Zelt hören wir, wie sich ein österreichisches Paar mit dem Bemühen um gedämpfte Lautstärke aber trotzdem hörbar streitet. Als Grund vermuten wir: Er geht gerne trekken, sie hat sich von ihm überreden lassen, heute Nacht hat es geregnet und ein nasses, kaltes Fjäll macht ihr üble Laune. (Ich danke im Stillen für meine Trekking-Frau.)

Wir sitzen zum zweiten Frühstück in der Hütte und trinken Tee, während wir noch mit dem deutsch-schwedischen Arzt tratschen. Er wickelt seine gigantische Blase mit Tape ab. Als ich einen Blick darauf erhasche denke ich nur, dass ich mich mit einer solch großflächigen Blase vermutlich direkt mit dem Hubschrauber ausfliegen lassen müsste. Zwischendurch bauen wir das Zelt ab. Die Österreicher machen das Gleiche; allerdings im Gegensatz zu uns völlig wortlos: Es nieselt!

Als wir gerade losgehen wollen, beginnt ein Platzregen. Also stellen wir uns noch unter das Vordach der Hütte und quatschen weiter mit dem Arzt. Nebenbei schälen wir uns in unsere Regenmontur. Wir gehen los, als der Regen etwas nachlässt. Direkt vor uns gehen dann auch die Österreicher. Sie geht seeehr langsam. Er fügt sich ihrem Tempo. Wir überholen schnell und sind froh, mit den beiden auch deren gedrückte Stimmung hinter uns zu lassen.

Heute zeigt sich das Fjäll von seiner wechselhaften Seite. Es ist nicht wirklich schlechtes Wetter, der Wind weht aber immer wieder kleinere Schauer über die Berge. Für uns heißt das immer wieder: Regensachen anziehen, Regensachen ausziehen. Der Weg windet sich weiter durch den Wald. Die großen Steine, über die man immer wieder steigen muss, machen es uns beschwerlich. Dann geht es in einem ersten großen Anstieg über die Baumgrenze hinweg. Der Blick ist frei auf die Schönheit Lapplands. Die vorbeiziehenden Regenwolken tauchen die Szenerie in ein melancholisches Bild.

Wir machen unsere Mittagspause und holen unseren Fleecepullis heraus. Der Wind kühlt viel stärker aus, als wir es beim Gehen vermutet hätten. Drei schwedische junge Burschen überholen uns zunächst. Dann begegnen wir ihnen etwas später wieder, als sie gerade ihre Mittagspause einlegen. Wir gehen weiter an den steinigen Hängen entlang und steigen dann langsam ab, bis wir an die Grenze des berühmten Sarek-Nationalparks gelangen. Natürlich ist der Sarek hier nicht per se „wilder“ als die anderen Teile des Kungsleden. Der Pfad zieht sich genauso sichtbar und gut ausgetreten durch die Wälder und auch die für mein Empfinden zu häufig auf dem Kungsleden anzutreffenden Feuerstellen werden hier nicht weniger. Aber nach einigen Kilometern fällt schon auf, dass der Wald hier abseits des Pfades noch dichter und urwüchsiger scheint. Vielleicht ist es nur eine Illusion, eine Einbildung aus dem Bewusstsein heraus, im Sarek zu laufen; vielleicht ist es aber tatsächlich aufgrund der weiten Entfernung zu der mit Fahrzeugen zugänglichen Zivilisation durchaus so, dass hier alles etwas dichter und undurchdringlicher ist.

Die Etappe ist heute mit ihren ca. 22 Kilometern länger als die gestrige. Es ist keine übermäßige Strecke aber mit den schweren, noch mit Proviant für je eine Woche übervollen Rucksäcken und noch keiner Gewöhnung an die tägliche Strecke von ca. 20 km durch die Wildnis wird es heute sehr beschwerlich. Die letzten beiden Kilometer schleppen wir uns durch den Wald. Die drei Burschen überholen uns zum zweiten Mal in einem wirklich beeindruckenden Tempo. Aber wir beißen noch einmal auf die Zähne und schaffen auch die letzten Kilometer noch.

Wir kommen an die Schutzhütte direkt am Südende des Sees Laitaure. Die Schutzhütte ist von einem jungen Schweden belegt, der ganz höflich anbietet, die Hütte für uns zu räumen. Wir wollen ohnehin zelten, so dass wir dankend ablehnen. Die drei Burschen haben den besten Zeltplatz schon belegt, aber wir finden zehn Meter weiter noch einen anderen. Problem ist nur, dass die drei nun massenweise feuchtes Holz anschleppen und der Wind den beißenden Rauch von der nicht weit entfernten Feuerstelle zu unserem Zelt weht. Die drei liegen mehr oder weniger schweigend nebeneinander, drehen eine Zigarette nach der anderen und lassen eine Plastikflasche mit Wodka kreisen. So sieht gepflegte Entspannung als Outdoorer aus. Wir kochen in der Hütte und unterhalten uns eine Weile mit dem jungen Schweden. Er hat schon zwei Wochen Kungsleden mit einem kleinen Abstecher in den Sarek hinter sich.

        

Durch unseren späten Start und den langen Trekkingtag ist es schon spät. Die drei Burschen sitzen immer noch schweigend, rauchend und Wodka trinkend an ihrem qualmenden Lagerfeuer, das immer noch bei entsprechender Windrichtung unser Zelt einräuchert. Aber als wir den Reißverschluss zumachen, sind wir überraschend rauchfrei im Zelt. Einen Schluck von unserem Wodka genehmige ich mir nun auch. Wir versuchen noch ein bisschen zu lesen, aber die Müdigkeit siegt schnell. 


15. August 2013

Wir stehen pünktlich um neun Uhr an der Bootsanlegestelle. Die drei Burschen sind mittlerweile auch wach, lassen sich aber Zeit. Sie wollen mit dem Boot herüber rudern, weil sie das Geld sparen wollen. Andererseits sind sie faul genug, die weite Entfernung über den Laitaure mehr als einmal rudern. Also bekunden sie, sich vieeel Zeit zu lassen, bis der nächste mit einem dann überschüssigen Boot vom Nordufer angerudert bekommt. Um es vorweg zu nehmen: Die drei stoischen Brüder im Geiste sehen wir später wieder, nachdem sie bis ca. 13 Uhr auf einen Ruderer gewartet haben. So kann man den Tag natürlich auch verbringen.

Das Wetter klart auf. Die Sonne taucht das Tal in magisches Licht. Bei der Überfahrt über den Laitaure genießen wir bereits eindrucksvolle Blicke in die Deltamündung des Rapa ins Rapadalen. Wenn man die breit gefächerten Ausläufe, die Wälder, die steil aufsteigende Felswände nur sieht, ist klar, warum es das „Tal der Täler“ genannt wird. Am Nordende thront mächtig, fast 600 Meter praktisch senkrecht zum Tal abfallend, der berühmte Skierfe. Auch wenn ich bereits genügend Bilder von ihm gesehen hatte bin ich von seiner Mächtigkeit und Schroffheit stark beeindruckt. Mit dem Blick auf den Skierfe ist die Entscheidung, uns heute einen Tag für die Besteigung des Skierfe zu nehmen, stillschweigend gefallen. Wir machen Quartier an der Aktse-Hütte, stellen unser Zelt auf und gehen mit leichten Rucksäcken bergan.

  

Der Skierfe ist von Süden steil und abweisend, aussieht, führt der Pfad über die Kammlinie mäßig ansteigend zum Gipfel. Es geht ohne technische Schwierigkeiten nach oben, die ca. 800 Höhenmeter auf den sieben Kilometern zum Gipfel wollen allerdings auch erst einmal bewältigt werden. Also schleppen wir uns voran, auf den ersten Metern noch euphorisch wegen der ungewohnt leichten Rucksäcke, nach zwei Kilometern dann schon deutlich angestrengter. So mühsam alles ist, der Blick nach vorne und nach unten in das Rapadalen lässt schon erahnen, mit was für einer Aussicht wir belohnt werden. Die letzten zweihundert Höhenmeter führen sodann steil über Blockfelder zum Gipfel.  


Reisebericht Kungsleden
2013 Kungsleden Nord neu 2016.pdf (2.54MB)
Reisebericht Kungsleden
2013 Kungsleden Nord neu 2016.pdf (2.54MB)

Der komplette Bericht inklusive der Fotos:

 

Island, Westfjorde

Hornstrandir - das Ende von Island

Aus Sicht des Mitteleuropäer liegt Island ja ohnehin schon abseits aller Wege. Innerhalb Islands ist es dann noch eine ein bis zweitägige Fahrt in die Westfjorde oder aber eine Stunde Flug von Reykjavík nach Ísafjördur. Von Ísafjördur benötigt ein Boot mehr als eine Stunde durch die Westfjorde bis zum nordwestlichsten Zipfel Islands: die unbewohnte Halbinsel Hornstrandir, die nur über das Wasser erreichbar ist, weil ein großer Gletscher und Steilküsten den Landweg verstellen.

Ich war im Juni 2015 dort.


Bilder von Hornstrandir und den Westfjorden, fotografiert von meinem Trekkingpartner Norbert Hillebrand


Island, Westfjorde:

Durch das menschenleere Hornstrandir

 

24. Juni 2015

Als Storri mit dem motorbetriebenen Schlauchboot umdreht und durch den Fjord Hrafnfjördur wieder zurück Richtung Isafjödur fährt, sind wir ganz alleine. Rings um uns herum nur die steil ansteigenden Berge von Hornstrandir, das Eis des Gletschers Dranganjökülls in Sichtweite und vor uns die Ende Juni noch bemerkenswert verbreiteten Schneefelder, die sich in geschützten Lagen beinahe noch in den Fjord hinein ziehen.

Gestern Vormittag war ich noch in Frankfurt, habe dann nachmittags Norbert am Busterminal von Reykjavik getroffen, um dann den Inlandsflug nach Isafjödur in die Westfjorde zu nehmen. Während Norbert noch an seinem Rucksack herumfummelt, um die bei der Bootsfahrt ausgekühlten Hände mit seinen Handschuhen zu wärmen, lasse ich die völlige Einsamkeit auf mich wirken.

Als nächstes hole auch ich die Handschuhe aus meinem Rucksackfach, um meine ausgekühlten Hände zu wärmen, und stelle fest: Ich habe zwei linke Handschuhe dabei, einmal meinen passenden und dann noch den mir zu kleinen linken Handschuh meiner Frau. Das geht ja gut los! Notgedrungen ziehe ich den etwas größeren linken Handschuh umgedreht an die rechte Hand und den engeren an die linke; das ist zum Wärmen in Ordnung, nur Bewegungsfreiheit habe ich in keinem der beiden Handschuhe.

Die Sonne scheint über einem fast wolkenlosen Himmel. Es ist kein einziger Regentropfen in Sicht und –so viel sei vorweg genommen- wir werden in der kommenden Woche nicht ein einziges Mal nass werden. Obwohl beständig ein kalter Wind vom Fjord über die Hänge fegt, sind dies für diese Gegend von Island traumhafte Bedingungen.

Mit dick bepackten Rucksäcken gegen wir erst ein Stück am Ufer entlang und machen uns dann ohne über den nur teilweise erkennbaren Pfad in Richtung Pass. An diesem ersten Tag muss ich mich noch anstrengen, um mit Norbert Schritt zu halten, der von seinen vorherigen Islandtouren schon eine hervorragende Kondition hat. Aber nach dem ersten Tag gibt sich das schnell.

Als wir auf nur etwa 200 Höhenmeter gestiegen sind, beginnt das Schneefeld zur Passhöhe. Wir hatten schon gehört, dass der Winter dieses Jahr in Island extrem lang und schneereich war. Trotzdem hätten wir kaum erwartet, Ende Juni noch auf diese Höhe durchgängig Schnee zu finden. Zum Glück hat das gute Wetter der letzten Tage den Schnee so weit verharscht, dass er sich größtenteils verlässlich und ohne tiefes Einsinken begehen lässt. Ein Blick über die Spuren im Matsch und im Schnee verrät uns, dass erst eine einzige Person in diesem Jahr vor uns diesen Bereich von Hornstrandir begangen hat.

Die Gegend ist von Beginn an magisch. Schneefelder, Wasserfälle, Bäche, die Dank der Schneeschmelze zu reißenden Flüssen geworden sind, die steil zur Grönlandsee abfallenden Küsten und die zahlreichen Seevögel. Wir queren über den Pass ins nächste Tal, sehen uns die Ruinen des verlassenen Dorfes Furufjödur an, das nicht mehr war, als sechs entlang des Strandes verstreute Häuser. Dann arbeiten wir uns entlang der Steinkünste weiter. Es ist bereits Abend, als wir in Bolungavik ankommen. In der Schutzhütte kochen und essen wir. Im Hüttenbuch hat sich vor fünf Tagen eine Gruppe eingetragen, welche mit dem Boot angelandet und wieder abgefahren ist. Ein Wanderer ist auch noch für dieses Jahr verzeichnet. Ansonsten sind wir, zumindest laut Eintragung des Hüttenbuches, in diesem Jahr die ersten.

Im Gefühl der erhabenen Einsamkeit am Ende der Welt gehen wir ins Zelt.

 

25. Juni 2015

Ein windiger aber sonniger Tag beginnt. Wir frühstücken wieder in der Hütte, dann bauen wir das Zelt ab und machen uns auf den Weg. Eine lange Etappe liegt vor uns. Zunächst passieren wir auf dem Kiesstrand von Bolungarvik den breit aber sehr flach in das Meer mündenden Bolungarvikuros. Dann  geht es mehr als 300 Höhenmeter durch völlig wegloses Gelände den 366 Meter hohen Pass Göngumannaskard herauf. Das ist viel steiler, als es sich anhört Stumm, aber mit guter Laune fressen wir Kilometer um Kilometer. Der Pass liegt in den Wolken. Hier oben empfangen uns Schneefelder. An den steilsten Passagen geht immer einer von beiden vor und tritt Stufen in den harschigen Schnee, so dass es der andere leichter hat. Das funktioniert schnell mit völliger Routine. Endlich sind wir oben. Der Aufstieg hat viel Kraft gekostet, aber der Blick zurück nach Bolungavik entschädigt für alle Mühen.

FOTO?

Nach einigen Metern Abstieg sind wir aus den Wolken und können wschon den Blick auf die nächsten Kilometer erhaschen. Der heutige Tag ist ein ständiges Auf und Ab. Kaum ein einziger Kilometer führt uns eben an unser Ziel. Der Abstieg nach Bardsvik geht schnell. Von der alten Siedling können wir keine Spuren entdecken. Völlig unberührte Natur liegt vor uns.

Am sehr breiten Bardsvikuros machen wir Rast und genießen Sonne und die im Tal vorhandene Windstille. Die Flussquerung gehen wir unterschiedlich an: Ich ziehe die Stiefel aus und die Watschuhe an, Norbert meint, dass man angesichts der geringen Tiefe mit Stiefeln und Gamaschen gehen kann. Könnte man auch problemlos, wenn die Gamaschen denn dicht halten würden. Norberts halten jedenfalls nicht dicht, aber ich verkneife mir ein Lachen (was sich einige Tage später auch als mein Glück herausstellen soll). Viel ist nicht im Stiefel.

Es geht weiter, über eine zerklüftete und felsige Landschaft mit nur wenig Bewuchs, wieder den nächsten Pass heraus, welche nicht so steil ist wie der letzte, wieder in das nächste Tal herunter, wieder an einem felsigen Anhang heraus. Endlos. Kilometer für Kilometer. Uns begleiten nur die zahlreichen Seevögel, die in den Steilküsten ihre Nester bauen. Es sind nur die Vorboten der Vogelkolonien am Hornberg, die in die Zehntausende gehen sollen.

Irgendwo in der öden Felslandschaft von Bjanarshaed – es ist nach unserer letzten Rast schon fast 18 Uhr – gebe ich auf. 18 Kilometer am heutigen Tag durch wegloses Gelände, unzählige Höhenmeter, drei Flussquerungen. Mir reicht es. Also schlage ich Norbert vor, hier heute unser Zelt aufzuschlagen. Norbert nickt zunächst. Aber: Er ist zäh wie ein Ochse und listig wie eine Schlange ;-). Und er will noch weiter! Also wägt er zunächst ab, meint, in Latravik könne der alte Leuchtturm offen sein, lockt mich mit einer warmen Übernachtung, meint dann, dass es nicht mehr so weit sei und die Sonne nicht vor 23:30 Uhr untergehe. Außerdem könne er noch und es würde sich gerne auf mein Tempo einstellen. Alles in dem freundlichsten Ton, den man sich vorstellen kann. Fürsorglich, sozusagen. Irgendwann hat er mich. Ich raffe mich auf, wir ziehen zusammen weiter. Mechanisch, aber trotzdem noch mit voller Konzentration, und irgendwann werden die Beine tatsächlich wieder leichter und der Blick für die Landschaft, der Genuss der Tour ist wieder da.

Beschienen vor der immer tiefen stehenden Sonne, die ein besonderes Licht auf die Umgebung wirft, arbeiten wir uns den letzten Berg nach Latravik heraus. Der Blick herunter ist wieder imposant. Fast dramatisch stürzt der Hang nach unten, der alte Leuchtturm von Latravik sieht aus wie ein Spielzeughaus. Der jetzt erstmalig erkennbare Pfad windet sich in mehreren Serpentinen durch den Steilhang. Wir konzentrieren uns ein letztes Mal und sind dann, es ist schon am fortgeschrittenen Abend, unten in Latravik.

Im alten Leuchtturm ist ein Wanderheim mit einigen Zimmern eingerichtet. Ein Schild an der Tür erklärt uns aber, dass der Leuchtturm erst in einer Woche öffnet. Wir sind wirklich außerhalb der Saison. Egal, dann genießen wir eben die Einsamkeit. Heute Abend hat schon jeder seine Rolle: Norbert ist der Quartiermeister und baut mit Akribie das Zelt auf, macht die Luftmatratzen, etc. Ich bin der Küchenmeister und packe derweil verschiedene trockene Nahrungsmittel und Dosen aus, aus denen ich Abend immer, so gut es eben geht, eine halbwegs frische Mahlzeit koche.

Nach dem Essen gehe ich schleunigst in den Schlafsack, während Norbert das Licht der nun wirklich untergehenden Sonne nutzt, um Fotografien zu machen.

 

26. Juni

Von den gestrigen Strapazen gut erholt beginnen wir den nächsten Tag. Der Himmel ist heute wolkenverhangen, so dass wir den vor uns liegenden Weg nur bedingt sehen können. Die Tour geht zunächst so weiter, wie der gestrige Tag geendet hat. Durch eine felsige, zerklüftete Landschaft bergab und bergauf. Heute peilen wir den Hornberg an, den nördlichsten Punkt der Tour mit der höhsten Steilklippe Islands und den Vogelfelsen.

Den 542 Medter hohen Dögunarfell queren wir an seiner östlichen Flanke. Vom Gipfel ist vor tiefhängenden Wolken nichts zu sehen. Zeitweise arbeiten wir uns durch nicht sehr dichten, aber grau-tristen Nebel. Die Stimmung ist schon fast etwas unheimlich. Dann reißt plötzlich der Nebel auf und wir sehen einen Menschen. Das hat sicherlich Edgar Wallace persönlich arrangiert. Die Gestalt ist das erste menschliche Wesen, das wir sehen, nachdem Snorri uns vor zwei Tagen im Fjord abgesetzt hat. Es ist eine sehr nette Studentin, die mit einigen anderen Biologen in der Bucht von Hornvik zeltet und ein Forschungsprojekt durchführt. Was genau, hab ich mir nicht gemerkt. Dafür ist Norbert zuständig, er ist der Naturwissenschaftler.